Kolorierte Zeichnung: reife Äpfel mit Raupen und Motten

Alte Obstsorten

Das Angebot an Apfelsorten in hiesigen Supermärkten ist überschaubar: Golden Delicious und Elstar, Gala und Granny Smith, Braeburn und Boskop gehören schon seit Jahren zu den beliebtesten Sorten. Bei den Birnen dominieren Williams Christ, Abate Fetel, Conférence und Limonera. Mit Ausnahme von Williams Christ, die schon seit dem späten 18. Jahrhundert belegt ist, stammen die meisten dieser Sorten aus dem späten 19. Jahrhundert, während die Apfelsorten Elstar erst 1955 in den Niederlanden gezüchtet und Braeburn sogar erst seit den späten 1990er Jahren verstärkt angebaut wird. Die anbau- und marktbedingte Fokussierung auf vergleichsweise wenige Apfel- und Birnensorten geht jedoch zu Lasten geschmacklicher und biologischer Vielfalt.

Schon seit einigen Jahrzehnten versuchen daher Vereine und Privatpersonen, alte und seltene Obstsorten zu bewahren und zu kultivieren. Abgesehen von noch „lebenden Zeitzeugen“ – den Bäumen selbst – sind Quellen zu alten Sorten relativ spärlich. Zwar werden Obstbäume und Brombeerhecken im Rahmen von Handelsgeschäften und Güteraufmessungen durchaus im Archivgut genannt; genaue Sortenangaben sind aber selten zu finden.

Eine Ausnahme ist eine Akte aus dem Familienarchiv von Savigny, von dem ein Teil im Hessischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrt wird (HHStAW, 127, 297Öffnet sich in einem neuen Fenster). Die Akte enthält ausschließlich Baumlisten des Hofs Trages die zwischen 1787 und 1799 akribisch niedergeschrieben wurden.

Hof Trages, gelegen im Main-Kinzig-Kreis nordöstlich von Alzenau, direkt an der Grenze zu Bayern, geht auf eine mittelalterliche Siedlung zurück, die während des Dreißigjährigen Kriegs zerstört wurde. Das anschließend dort errichte Hofgut gelangte 1787 durch Erbschaft an die Familie von Savigny, die es noch heute besitzt. Bekannter als der alte Wirtschaftshof, der inzwischen eine Gastronomie beherbergt, ist das gegenüber gelegene Schloss, ein im 19. Jahrhundert aus- und umgebautes spätbarockes Gartenhaus, sowie der moderne Golfplatz, der einen Großteil der ehemaligen Ländereien einnimmt. Eine Karte aus dem Jahr 1739, von der hier nur ein Ausschnitt zu sehen ist, zeigt die ausgedehnten Länderein des Hofs (vollständige Karte digital einsehbar: HStAM, Karten, P II, 10440Öffnet sich in einem neuen Fenster).

Historische Karte: schematische Darstellung von Wäldern, Feldern, Alleen und der Hofanlage in Aufsicht
Hof Trages bei Somborn um 1739, rund 50 Jahre vor dem Übergang an die Familie Savigny. Gut zu erkennen sind die damals schon vorhandenen regelmäßigen Anpflanzungen hinter dem Hofgebäude und die langen Alleen. Das Schlösschen gegenüber dem Hof ist noch nicht erbaut (HStAM, Karten, P II, 10440).

Mit der Erstellung der Baumlisten wurde nach Übernahme des Hofguts im Jahr 1787 begonnen. Sie bilden gewissermaßen ein Inventar, belegen aber auch die geplanten und durchgeführten Pflanzungen in den folgenden Jahren. Das gesamte Hofgelände wurde in 20 Einheiten eingeteilt, deren Baumbestand genau aufgeführt ist. Auffällig ist die große Ausdehnung der Baumpflanzungen, die schon fast den Charakter von Plantagen hatten, sowie die vielen Alleen. Schon im frühen 18. Jahrhundert hatte man, teils auf landesherrliche Verordnung hin, damit begonnen, die Straßen- und Wegränder sinnvoll zu nutzen und mit Obst- und Nussbäumen zu bepflanzen.

Auf Hof Trages wurden am häufigsten Äpfel und Birnen angebaut, aber auch Zwetschgen und Kirschen, Mirabellen und sogar Aprikosen und „Pfirsching“ – Pfirsiche. Auch Nussbäume und „zahme Kastanien“ (Esskastanien oder Edelkastanien) sind in den Listen aufgeführt, allerdings keine Zitrusfrüchte, da diese zur Überwinterung eine Orangerie oder ähnliches benötigt hätten.

Historisches Schriftstück: handschriftliche Tabelle in deutscher und lateinischer Schrift
Allee zwischen den Dahlbergischen Hecken und der Flur Tannenberg mit späteren Korrekturen: Baum 37 links und 36 rechts war kein gestreifter Mat-Apfel, sondern "noch ohnbekannt". Baum 36 links und 37 rechts erwies sich als "spate [späte] Reinette, im folgenden Sommer eßbar" (HHStAW, 127, 297)

Die „Große Nussallee“ bestand aus 78 Bäumen, von denen allerdings nur vier Nussbäume waren, die übrigen Bäume waren Apfel- und Birnbäume und eine Edelkastanie. Anders als heutzutage üblich waren die Alleebäume „bunt gemischt“. Neben dem Weißen, Schwarzen und Wilden Matapfel sind in der Allee-Liste unter anderem „Borstorfer“ (Borsdorfer), Glas-Apfel, Wein-Apfel, Gelber Süß-Apfel, Cartäuser Apfel und „Reinetten“ aufgeführt, an Birnensorten Früh-Birne, Apotheker-Birne, Schweizer Bergamotte, Mehlbirnen, Quise Madame, Major Winter-Birne, Rothe Kappes-Birne, Balster-Birne und Schmalz-Birne. In der „Borstorfer Allee“ standen vor allem Borsdorfer-Apfelbäume, Rotgestreifter Süß-Apfel und Dicker Wein-Apfel. Fast ausschließlich aus Nussbäumen bestand hingegen die Große Allee, welche vom Hofgebäude Richtung Somborn führte. Hier standen 64 Nussbäume; in der „Zwerchallee“ 36, in der Allee zwischen Backhaus und der neuen Brücke 20. Leider fielen alle Nussbäume der Großen Allee im Jahr 1794 einem strengen Frost zum Opfer und mussten gefällt werden. Stattdessen wurden Apfelbäume und einige Birnbäume gepflanzt.

Historisches Schriftstück: Handschrift in deutscher und lateinischer Schrift
Pflanzungen zwischen der Lindenallee und den Hausgärten der Dienstleute: Mirabellen, Aprikosen, Kirschen, Zwetschgen und ein Mandelbaum (HHStAW, 127, 297)

Der Garten hinter den Gesindehäusern und der Brennerei und dem Backhaus war vor allem Steinobst vorbehalten. Es gab verschiedene Kirschbäume – Schwarze Amorelle, Rote Sauerkirschen und Flammertiner sowie eine „Cardinalskirsche von Würzburg“ – dann Zwetschgen- und Pflaumenbäume, Reineclauden und Mirabellen, darunter eine „Blaue Mirabelle“, „Linderbacher Aprikosen“ und sogar einen Mandelbaum. In einem weiteren Gartenteil standen ausschließlich Kirschbäume. Außer den oben genannten gab es dort Schwarze Süßkirschen, Rote Herzkirschen, „Rothe Weichling“, „Braune Mai-Kirschen“, „Frühe Molcken-Kirschen“, Rote Wald-Kirschen und eine gelbe Herzkirsche, die aus Kronenberg stammte. Zudem gab es verschiedene Streuobstwiesen mit Zwetschgen- und Kirschbäumen und weitere mit verschiedenen Apfelbäumen, Quitten und Speierling.

Direkt am Haus waren neben „Zwergbäumen“ sogar Weinstöcke gepflanzt – Weißer und Blauer Gutedel, Blauer Burgunder, und Blauer Traminer und ein Stock „Peter Silgen Traube“. Ob sie zum Genuss oder zum Keltern gedacht waren, geht aus der Akte leider nicht hervor.

Anmerkungen in den Listen zeigen, dass man mit anderen Obstbaumbesitzern in Austausch stand. So war ein Großteil der 76 Bäume einer weiteren Apfelbaumallee zwischen den Dahlbergischen Hecken und Tannenberg aus der Baumschule des Prinz Friedrich zu Hessen zu Rumpenheim gekauft worden, die Frühe Molkenkirsche stammte von Johannes Wiesel zu Stritzbach, und der „Familien-Apfel“ war von Kammerrat Huth geschenkt worden.

Hof Trages verfügte zudem über eine eigene – so benannte – Baumschule, in der man selbst Obstbäume gezielt kultivierte und vermehrte. Die zugehörige Liste führt 70 verschiedene Obstsorten auf, darunter allein je 40 Stämme Borsdorfer und Matäpfel, verschiedene Birnensorten, Mirabellen und die Pfirsichsorten Madeleine rouge, Cardinal Fürstenberg und Chevreuse hativ. Die Zuchtbäume waren mit kleinen Blechschildchen versehen, damit man sie mittels der Listen leichter identifizieren konnte. Auch einige durch Pfropfen entstandene Kuriositäten gab es auf Hof Trages: So ist ein Apfelbaum aufgeführt, auf dem Weinapfel, „silber Reinette“ und „gelbe Pepin“ zusammen wuchsen, ein Birnbaum trug „runde und lange grüne Winter-Birn auf einem Stamme“. Die meisten Bäume waren jedoch „sortenrein“, einige auch unveredelt.

Historisches Schriftstück: Handschriftliche Tabelle in deutscher und lateinischer Schrift
Bestand der Baumschule im Jahr 1788: 40 Bäume Borsdorfer, je 20 Bäume Schwarze und Weiße Matäpfel, verschiedene Reinetten und vieles mehr (HHStAW, 127, 297)

Der Anzahl der angebauten Bäume nach war der Borsdorfer am beliebtesten; vielleicht aber war der Baum für die Gegend einfach am besten geeignet. Die Sorte, die im 12. Jahrhundert von Zisterzienser-Mönchen kultiviert wurde, ist relativ unempfindlich, langlebig und gut haltbar.

Leider gibt die Akte keinerlei Aufschluss darüber, wie die einzelnen Sorten schmeckten. Sie zeigt aber die erstaunlich große Vielfalt der im späten 18. Jahrhundert auf einem einzigen Hofgut professionell angebauten Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Kirschen und weiteren Früchten und lädt ein, auch mal andere als die bekannten Sorten zu probieren.

Dorothee A.E. Sattler, Hessisches Landesarchiv