Historisches Foto: Blick auf die Synagoge am Michelsberg, links ein Wohnhaus

Bewundert – Zerstört – Vergessen?

Bildquellen im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden zeigen die Geschichte von Synagogen und den Umgang mit den NS-Verbrechen nach dem Krieg

Vor 85 Jahren wurden in den nationalsozialistischen Novemberpogromen des Jahres 1938 im gesamten deutschen Reichsgebiet weit über 1000 Juden ermordet, über 30 000 wurden in Konzentrationslager verschleppt oder anderweitig inhaftiert. Gleichzeitig wurden zahllose jüdische Einrichtungen und Friedhöfe sowie Häuser und Geschäfte jüdischer Eigentümer verwüstet. Ungefähr 1400 Synagogen und Betstuben wurden geschändet, zerstört und niedergebrannt.

Trotz des menschlichen Leids und des materiellen Schadens ist vor allem die Brandschatzung der Synagogen im Gedächtnis geblieben, vielleicht weil sie für Nichtjuden häufig der erste, manchmal auch der einzige „Sichtpunkt“ der jüdischen Kultur waren und sich ihr Fehlen im Ortsbild noch lange bemerkbar machte – und macht. Das öffentliche Gedenken daran setzte jedoch erst sehr spät und vielerorts nur halbherzig ein.

Am Beispiel der Synagoge am Michelsberg in Wiesbaden wird dies besonders deutlich, wie die zahlreichen im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden überlieferten Fotos zeigen. Die meisten von ihnen können als Digitalisate in Arcinsys eingesehen werden.

Historisches Foto: Straßenszene am belebten Michelsberg, links die Synagoge, rechts Wohnhäuser
Leben am Michelsberg um 1904. Die Synagoge gliederte sich in den Straßenzug ein und war Teil des Alltagslebens (HHStAW, 3008/1, 13813)

Die Synagoge am Michelsberg wurde in den Jahren 1863–1869 nach Plänen von Philipp Hoffmann im sog. maurischen Stil erbaut. Wegen der Hanglage wurde ein Sockel aufgeschüttet, der dem Gebäude eine zusätzliche Höhe gab. Schon bald war das prachtvolle Bauwerk ein beliebtes Foto- und Postkartenmotiv der aufstrebenden Kurstadt (HHStAW, 3008/1, Serie: Wiesbaden, Hauptsynagoge der Israelitischen Kultusgemeinde am Michelsberg 17Öffnet sich in einem neuen Fenster, Bilder noch nicht online).

Historisches Foto
Blick auf den Torahschrein in der Synagoge am Michelsberg, 1869 (HHStAW, 3008/1, 13816)

Oberhalb der Synagoge befand sich das jüdische Gemeindehaus. Es enthielt außer einem weiteren Betraum, der auch als Gemeindesaal verwendet wurde, ein Archiv- und ein Bibliothekszimmer. Besonders bei Nacht und im Winter boten Synagoge und Gemeindehaus einen geradezu märchenhaften Anblick (HHStAW, 3008/2, Serie: Synagoge am Michelsberg - Ansichten bei NachtÖffnet sich in einem neuen Fenster).

Historisches Foto: Verschneite Straße, Bäume und Straßenbeleuchtung
Aufgang zum Gemeindehaus am Michelsberg im Winter 1937. Ganz rechts die Außenwand und ein Seiteneingang der Synagoge, das erleuchtete Fenster gehört zum Gemeindehaus (HHStAW, 3008/2, 31)

In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde die Synagoge durch SA-Männer der SA-Standarte 80 angezündet und brannte vollständig aus. Zwei Fotos der noch brennenden Synagoge sind erhalten (HHStAW, 3008/1, 13997Öffnet sich in einem neuen Fenster und 13998Öffnet sich in einem neuen Fenster, Bilder noch nicht online), andere zeigen die Ruinen von Synagoge und Gemeindehaus zu einem späteren Zeitpunkt (HHStAW, 3008/2, Serie: Die Ruine der Synagoge am Michelsberg nach der ReichspogromnachtÖffnet sich in einem neuen Fenster)

Historisches Foto: Wohnhaus, daneben Ruinen

Kurze Zeit danach wurden die ausgebrannten Ruinen von Synagoge und Gemeindehaus abgebrochen. (HHStAW, 3008/1, Wiesbaden, Synagoge am MichelsbergÖffnet sich in einem neuen Fenster, Bilder noch nicht online). Die Abbrucharbeiter des Unternehmens Hugo Dauster posierten auffällig triumphierend auf den Trümmern

Historisches Foto: Männer stehen auf Trümmern
Abbrucharbeiter posieren auf den Trümmern der Synagoge, 1939 (HHStAW, 3008/1, 14000)

Das Gelände blieb unbebaut. Während des Krieges wurden die Grundmauern offenbar zeitweilig als Löschwasser-Reservoir genutzt. 1950 wurden schließlich auch der Sockel abgebrochen, um Platz für die neue Straßenführung der Coulinstraße zu machen (HHStAW, 3008/2, Serie: Alte Synagoge am Michelsberg, Abriss der GrundmauernÖffnet sich in einem neuen Fenster).

Historisches Foto: Grundmauern, darin Baugeräte, im Hintergrund Wohnhäuser
Abbruch des Sockelgeschosses für die Neuanlage der Coulinstraße, 1950 (HHStAW, 3008/2, 22372)

Zwei Jahre später wurde am Hang des Michelsberg eine Grünanlage eingerichtet, die "Heinrich-Heine-Anlage". Die neue Coulinstraße führte nun gewissermaßen mitten durch die Synagoge hindurch (HHStAW, 3008/2, Serie: Coulinstraße/MichelsbergÖffnet sich in einem neuen Fenster)

Historisches Foto: Grünanlage, im Hintergrund ein Wohnhaus
Die 1953 angelegte Grünanlage am Ort der Synagoge am Michelsberg. Die Stele befand sich auf dem kleinen Platz am Ende der Mauer (HHStAW, 3008/1, 13826)

1953 – im bundesweiten Vergleich relativ früh – wurde in der Grünanlage eine schlichte Gedenk-Stele für die ermordeten Wiesbadener Juden errichtet. Der Text lautete „Der Welt Gewissen ist die Liebe". (HHStAW, 3008/2, Serie: Einweihung einer Gedenk-Stele für ermordete jüdische MitbürgerÖffnet sich in einem neuen Fenster).

Historisches Foto: Redner am Mikrofon, zuhörende Menschen, rechts eine Steinstele
Einweihung der ersten Gedenkstätte am Michelsberg, 1953 (HHStAW, 3008/2, 10692)

Der harmlos-abstrakte Text, der für jeden Gedenkort passend ist, wurde nach Kritik der Jüdischen Gemeinde später durch eine weitere Tafel mit einem Bild der Synagoge und dem Text „Hauptsynagoge am Michelsberg. Entwurf Herzoglich Nassauischer Landesbaumeister Philipp Hoffmann. Eingeweiht am 13. August 1869. Zerstört am 9. November 1938. Liebe Deinen Nächsten“. Die Täter wurden darauf nicht genannt. Doch selbst diese Tafel wurde Ziel antisemitischer Schmierereien (HHStAW, 3008/1, 13821Öffnet sich in einem neuen Fenster, Bild noch nicht online)

Die schlichte, geradezu anonyme Gedenkstätte wurde von der Stadt äußerst nachlässig behandelt. In den 1970er Jahren wurde in der Coulinstraße aus verkehrstechnischen Gründen eine Hochstraße errichtet, eine auf Stelzen stehende Brücke, welche die Gedenkstätte völlig verdeckte. Der Ort der Synagoge war völlig unkenntlich gemacht worden, die Erinnerung daran und ein Bewusstsein für die nationalsozialistischen Verbrechen wurden verdrängt (HHStAW, 3008/2, Serie: Baustelle der Hochstraße am Michelsberg, bes. Nr. 25103Öffnet sich in einem neuen Fenster und 25104Öffnet sich in einem neuen Fenster)

Historisches Foto: Rohbau einer Straßenbrücke, rechts Baugeräte
Durch den Bau der Hochstraße wurde die Gedenkstätte - links neben der Brücke - buchstäblich aus den Blick genommen.

Erst dreißig Jahre und somit eine ganze Generation später ermöglichte der Abbruch der Hochstraße im Jahr 2001 der Stadt Wiesbaden die Neugestaltung des ehemaligen Synagogenareals am Michelsberg. 2011 wurde schließlich die neue Gedenkstätte der Öffentlichkeit übergeben. Mittels Stahlelementen und Bodenmarkierungen wird die Synagoge, an die sich inzwischen kaum einer mehr erinnert, wieder sichtbar gemacht. Gewissermaßen in den ehemaligen Fundamenten befindet sich ein Gedenkort für die ermordeten jüdischen Wiesbadener. Für jede Person wurde ein Stein mit Namen, Lebensdaten und Todesort eingesetzt. Zu dieser Gedenkstätte sind noch keine Verzeichnungen oder Bilder in Arcinsys enthalten (weitere Informationen: siehe Link am Ende des Artikels).

Historisches Foto: Menschenmenge im Innenhofe der Synagoge
Veranstaltung anlässlich der Anbringung einer Gedenktafel an der neuen Synagoge in der Friedrichstraße. Das Säulenfragment der Synagoge am Michelsberg befindet sich links an der Wand direkt vor der Eingangstreppe (HHStAW, 3008/47, 4708)

Von der prächtigen Synagoge am Michelsberg blieb nur ein Säulenfragment erhalten. Es ist zum Gedenken im Hof der (neuen) Synagoge in der Friedrichstraße angebracht (HHStAW, 3008/47, 4708Öffnet sich in einem neuen Fenster).

Dorothee A.E. Sattler, Hessisches Landesarchiv

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