Historisches Schriftstück: Handschrift des 16. Jahrhunderts auf Papier

Archivalien des Grauens…nicht nur an Halloween!

Poltergeister treiben ihr Unwesen in Appenhain

Der Bestand 17 e des Staatsarchivs MarburgÖffnet sich in einem neuen Fenster, die sogenannte Ortsrepositur, ist ein typischer geographisch gegliederter Pertinenzbestand. Er setzt sich ebenso wie der Bestand 17 d (Familienrepositur)Öffnet sich in einem neuen Fenster aus Altakten der Regierungen Kassel und Marburg sowie Schriftgut des Geheimen Rates und der Hessischen Kammer zusammen. Für die ortsgeschichtliche Forschung ist er von großer Bedeutung, denn er enthält Dokumente, wenn auch oft nur einzelne Seiten oder sehr schmale Vorgänge, zu den verschiedensten Themen des Alltags zwischen 1518 und 1821. Diese zeugen auch von übernatürlichen und gruseligen Episoden, die sich nicht nur in der Nacht vor Allerheiligen zugetragen haben…

So datieren die schaurigen Ereignisse, über die Valentin Schoner, Pfarrer von Ziegenhain, berichtet, aus dem September und Oktober 1584 (HStAM Best. 17 e Nr. Appenhain 2Öffnet sich in einem neuen Fenster). Beim Förster Heinz Happel in Appenhain, heute Ortsteil der Gemeinde Gilserberg im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis, treibe ein Poltergeist sein Unwesen. Anlass für das Auftreten des Poltergeistes scheint zu sein, dass die Tochter des Försters, gerade erst von ihrem Bräutigam nach Treysa heimgeführt, wegen ehelicher Differenzen wieder in das Haus ihrer Eltern zurückgekehrt war. Zunächst recht harmlos wirft der Poltergeist Tische, Bänke, und Kästen um und bewirft sowohl die Bewohnerinnen und Bewohner als auch den Besuch mit Äpfeln, Möhren oder Schuhen. Nachdem er ein paar Tage Ruhe gegeben hat, werden seine Aktionen brutaler, Frau und Knecht eines benachbarten Weißbinders erleiden Prügel und tragen ein blaues Auge und Kopfverletzungen davon.

Als der Poltergeist eine Axt gegen die Stubentür wirft, fühlt man sich an „Shining“ von Stanley Kubrick erinnert, und was der Poltergeist der Försterstochter antut, mutet wie Szenen aus einem anderen Klassiker des Genres an, dem Film „Der Exorzist“: „Die Dochter aber hab ich in grosser Schwacheit gefunden, das sie im bette heftig ist gequelet worden. Denn irs brust ist behend und oft nacheinander auf und nider geworffen und oft ir gantzer leib aufgehoben worden, das man sie an armen und beinen hat halten und iren leib niderdrücken müssen.“ Gleichzeitig zieht sie sich selbst an den Haaren und schlägt sich an den Mund. Dass die Ursache für dieses Verhalten möglicherweise in – körperlichen oder psychischen – Misshandlungen oder Krankheiten liegt, wird im zeitgenössischen Bericht des Pfarrers nicht thematisiert, sondern als Einfluss des Poltergeistes interpretiert.

Doch wo kommt der Poltergeist her? Tatsächlich gibt dieser selbst über sein Erscheinen Auskunft. Im Gespräch mit Pfarrer Schoner teilt er mit, er sei von seinen zwei Schwestern, in Appenhain und im nahe gelegenen Schiffelbach wohnhaft, geschickt worden und er solle acht Wochen bleiben. Der Ursprung des Geistes könnte aber noch viel finsterer sein. Denn nicht nur die Szene, die an den Exorzisten erinnert, sondern auch der Umstand, dass immer dann, wenn Geistliche die Szene betreten und viel gebetet wird, der Poltergeist Ruhe gibt oder grausam heulen muss, legt die Vermutung nahe, dass der Teufel hier seine Finger im Spiel hat. Das würde zu der zeitgenössischen Erklärung Martin Luthers zum Auftreten der Poltergeister passen. Der Reformator lehnte eine Interpretation ab, nach der sie Erscheinungen von Verstorbenen seien, die zurückkehren, um mit Hinterbliebenen in Kontakt zu treten – denn wo sollen diese auch herkommen, wenn es kein Fegefeuer oder einen anders gearteten „Wartesaal“ zum Jüngsten Gericht gibt, aus dem sie herkommen könnten?. Auch Luther sieht sie als Teufelsgespenst (vgl. hierzu Miriam Rieger, Der Teufel im Pfarrhaus, Stuttgart 2011).

Der Pfarrer pocht zur Lösung des Problems in diesem Sinne auch vor allem darauf, dass die Eheleute ihre Zwistigkeiten beiseite legen sollen und ermahnt sie zu „buss, glauben und gebet“ – „Denn dis unklück lasse sich ansehen, als komme er von der jungen eheleute uneinigkeit hehr, sintemal sie niemals in rechter liebe und gutem friede einander beigewonet". Schließlich habe der ganze Spuk erst angefangen, als die Tochter wieder zurück zu ihren Eltern gegangen sei.

Landgraf Wilhelm, der im Oktober zum Bericht der Geistlichen Stellung nimmt, ordnet den Poltergeist ebenfalls zunächst als „Zauberwergk und des Teuffels Affenspiell“ ein. Er schlägt vor, zur Abwehr der Erscheinung dem Geist einen Auszug aus dem Ersten Brief des Johannes – In hoc apparuit filius Dei ut destruat opera diaboli (Der Sohn Gottes aber ist erschienen, um die Werke des Teufels zu zerstören) – vorzuhalten und den Bibelvers auch an die Türen zu schreiben. Durch Befragungen des Amtmannes stellt sich jedoch bald heraus, dass es sich bei der Poltergeist-Episode um eine von der Frau und der Tochter des Försters angezettelte „Schelmerey“ gehandelt habe. Der Fürst weist den Amtmann an, der Familie samt Gesinde zu untersagen, „das sie dieser dinge müßig gehenn, des Poltergeists halben kein weitter geschrey machenn.“ Namentlich die Tochter wird verwarnt, mit ihrer „Schwachheit“ ein solches Spiel zu treiben wie die „Jungfrau von Esslingen“. Hier nimmt der Landgraf Bezug auf einen Betrugsfall, der im Jahr 1551 aufgeflogen war: Anna Ulmer, ein Mädchen, dessen Bauch über zwei Jahre immer weiter anschwoll, obwohl es vorgab, keine Nahrung zu sich zu nehmen, zog damit Schaulustige an, die Geld und Nahrungsmittel spendeten. Der Bauch erwies sich als Attrappe, Anna Ulmer wurde inhaftiert, ihre Mutter als Hexe hingerichtet, nachdem sie gestanden hatte, dass sie der Teufel dazu angestiftet habe, die Schwangerschaft der Tochter durch einen anschwellenden Bauch zu simulieren. Der Landgraf droht Familie Happel weiterhin an, dass ihre „Krankheit“ auch bei Wasser und Brot im „Roten Gemach“ zu Ziegenhain kuriert werden könne.

Die Lektüre der Akte hinterlässt eine gewisse Ratlosigkeit, will man die Geschehnisse, die offenbar so weite Kreise gezogen haben, dass sich der Landgraf selbst dazu äußert, interpretieren: Was war der Zweck des ungeheuren Aufwandes, der doch getrieben worden sein muss, um das Wirken des Poltergeistes vorzuspielen? Den Schwiegersohn oder die beiden Schwestern des Poltergeistes in Misskredit zu bringen? Es müssen viele in die „Schelmerey“ mit einbezogen worden sein, um ähnlich lautende Berichte gegenüber Geistlichkeit und Amtmann abzustimmen. Oder ging es damals in Appenhain doch mit übersinnlichen Kräften zu…?

Katrin Marx-Jaskulski, Marburg

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